Haben Sie schon mal im Wald gebadet? Sollten Sie unbedingt ausprobieren. Das wird heute in fast jedem Schwarzwald-Dorf angeboten. Ehrlich gesagt hatte ich bis vor Kurzem noch nie davon gehört. Bei Waldbaden dachte ich zuerst an alte Blechbadewannen, die auf einer Waldlichtung herumstehen so wie früher die Viehtränken, in denen wir als Kinder planschten, wenn die Kühe nicht auf der Weide waren. Dabei hat dieser Trend, der aus Japan kommt, nichts mit Wasser zu tun. Laut Bundesverband Waldbaden e. V. handelt es sich dabei um einen „bewussten Aufenthalt im Naturraum Wald, der der mentalen und körperlichen Gesundheit dient und das Bewusstsein für die Bedeutung der Natur und insbesondere des Waldes stärken soll“.
Ich hatte das Glück – und auch das Pech –, dass ich diese Gebrauchsanweisung nun schon zum dritten Mal in die Hand nehmen und überarbeiten durfte. Die erste Ausgabe erschien 2009, die zweite 2014. Glück, weil es Spaß machte und spannend war zu sehen, was sich in den letzten Jahren im Schwarzwald alles verändert und getan hat. Zum Beispiel dass man jetzt nicht mehr einfach in den Wald geht, sondern darin badet. Pech, weil mir die Arbeit vor Augen führte, dass auch ich älter geworden bin.
2009 besuchte Barack Obama den Schwarzwald, der SC Freiburg stieg in die Bundesliga auf, und dessen langjähriger Präsident Achim Stocker erlag einem Herzinfarkt. Am Kaiserstuhl wurden 38,1°C gemessen. Auf dem Hasenhorngipfel wurde ein Aussichtsturm errichtet. Und in der Gebrauchsanweisung stand, der Schwarzwald habe den Ruf, Reiseziel alter Omas und biederer Kurgäste zu sein, die mit sonntäglichen Kurkonzerten und einem bunten Heimatabend zufriedenzustellen seien.
Diese Zeit scheint endgültig vorbei. Nichtstun ist out. Die Omas und Opas von heute sind aktiv, sie wandern, schwimmen, golfen, skaten, wellnessen oder reißen mit dem E-Bike mal eben hundert Kilometer runter. Abends skypen sie kurz mit den Enkelkindern und gehen dann in einen Kochkurs.
Neu ist auch, dass die rüstigen Rentner nicht mehr unter sich bleiben. Der Schwarzwald zieht immer mehr junge Leute an. Familien mit kleinen Kindern genauso wie Schüler, Studenten und Auszubildende. Sie suchen Abgeschiedenheit und unberührte Natur, aber auch Nervenkitzel und Abenteuer. Outdoor ist in. Dafür hat der Schwarzwald in den letzten Jahren enorm aufgerüstet. Überall sind Baumwipfelpfade, Hochseil- und Klettergärten entstanden. Radnetze wurden ausgebaut und Mountainbike-Trails angelegt. Auf den Flüssen kann man raften, in den Felsen klettern und auf den Bergen paragliden. Wem das zu touristisch ist, kann sein Zelt in einem von neun Trekkingcamps aufschlagen, die es neuerdings gibt und die mit nichts weiter als einer Feuerstelle und einem Toilettenhäuschen ausgestattet sind.
Der Schwarzwald ist und bleibt einer der Sehnsuchtsorte der Deutschen. Seit rund 200 Jahren kommt das, was man vom Schwarzwald kennt oder zu kennen meint, der Vorstellung einer heilen Welt ziemlich nahe. Gesunde Luft und mildes Klima, ansehnliche Städte und pittoreske Dörfer, Gastfreundschaft und Gemütlichkeit, geringe Arbeitslosenzahlen und gutes Essen, Gasthöfe, wo es im Flur noch nach Kuhstall riecht und auf der Speisekarte nur regionale Produkte stehen, liberale und freundliche Menschen, die zu leben verstehen und leben lassen, und das im Einklang mit viel unberührter Natur.
Im Schwarzwald leben knapp dreieinhalb Millionen Menschen. Mehr als doppelt so viele kommen jährlich zu Besuch – Tendenz weiter steigend. Allein zwischen April und Juni 2020 hatte der Nationalpark Schwarzwald 100 000 Besucher und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.
Natürlich stößt man auch hier auf den ein oder anderen Hotelklotz, am Titisee etwa oder am Schluchsee. Aber im Großen und Ganzen musste der Schwarzwald nicht verschandelt werden, um Touristen anzulocken oder unterzubringen. Eben wegen seiner Unberührtheit und Naturbelassenheit kommen die ja her. Abgesehen davon, dass die meisten Dörfer und Täler viel zu klein und eng für Bettenburgen sind.
Auch gesunde und nachhaltige Ernährung spielt eine immer größere Rolle. Viele essen nur noch Bio- oder gar kein Fleisch mehr. Wurde man 2009 zum Essen eingeladen, konnte man meist noch zwischen „mit Fleisch oder ohne“ wählen. Heute heißt es auch im Schwarzwald oft: „Vegetarisch oder vegan?“ Immer mehr Bauern, Kooperativen und regionale Zusammenschlüsse betreiben hier ökologische und nachhaltige Landwirtschaft und verkaufen ihre Produkte in Bioläden, Hofläden und regionalen Supermärkten. Sogar Badischer Biowein ist auf dem Vormarsch (auch wenn der Anbau es im regenreichen Südwesten schwer hat).
Neu ist, dass die Fußballnationalmannschaft der Herren nicht mehr von einem Schwarzwälder trainiert wird. Fünfzehn Jahre lang, von 2006 bis 2021, war Jogi Löw aus Schönau Bundestrainer. Auch wenn sein Ruf wegen des frühen Ausscheidens bei der WM 2018 und der EM 2021 zuletzt gelitten hatte, wird er doch immer der Jogi bleiben, der 2014 in Brasilien Weltmeister wurde.
Auch das Schwarzwaldstadion ist Geschichte. Nachdem der Sport-Club Freiburg fast sechzig Jahre lang in diesem Schmuckkästchen an der Dreisam gekickt hatte, zog er im Herbst 2021 in den Norden der Stadt. Ansonsten ist hier alles gleich geblieben: Seit Januar 2012 wird die Mannschaft von Christian Streich trainiert. Damit ist er der dienstälteste Trainer der Liga. In 31 Jahren hatte der SC nur fünf Trainer, so viel wie manche Clubs in einer Saison. Es gibt sie noch, die langlebigen Dinge.
Auch politisch hat sich viel getan. 2009 war es noch unvorstellbar, dass Baden-Württemberg mal einen grünen Ministerpräsidenten haben würde. Das Bundesland war seit 1953 durchgehend von der CDU regiert worden. Als Winfried Kretschmann 2011 das Amt antrat, kam das einem politischen Erdbeben gleich. Nicht wenige hatten Angst, er könnte den Kommunismus einführen und privates Vermögen verstaatlichen. 2021 wurde der beliebte und angesehene grün-konservative Landesvater zum zweiten Mal wiedergewählt.
Schon 2002 war in Freiburg Dieter Salomon erster grüner Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt geworden, auch das war eine Sensation. Viele glaubten, Freiburg würde fortan für immer grün regiert werden. Bis Salomon im April 2018 die Wahl überraschend gegen den 33-jährigen parteilosen Novizen Martin Horn verlor. Seitdem hat Freiburg einen der jüngsten Bürgermeister aller deutschen Großstädte.
Aber liegt Freiburg eigentlich im Schwarzwald? Wieso heißt es dann „Freiburg im Breisgau“? Und was ist mit Karlsruhe? Und dem Kaiserstuhl? Dem Europapark Rust? Nagold und Calw? Kann man eine Landschaft, die rund 200 Kilometer lang und bis zu neunzig Kilometer breit ist und Temperaturschwankungen von mehr als zwanzig Grad Celsius hat (wenn im Januar das Thermometer in Freiburg auf zwölf, dreizehn Grad ansteigt, hat es auf dem Schauinsland manchmal noch minus zehn), in einen geografischen Topf schmeißen?
Stellen wir an dieser Stelle klar: Der Schwarzwald ist das größte und höchste zusammenhängende Mittelgebirge Deutschlands, das im Norden an den Kraichgau, im Osten an Gäu und Baar, im Süden an den schweizerischen Hochrhein und im Westen an die Oberrheinische Tiefebene angrenzt. Der Breisgau, in dem Freiburg liegt, der Kaiserstuhl, Lörrach, Weil am Rhein, Karlsruhe, Offenburg oder der Europapark Rust – gehört alles nicht dazu. Die ganze Gegend hat sich aber zur Ferienregion Schwarzwald zusammengeschlossen. Wenn in diesem Buch vom Schwarzwald gesprochen wird, ist meist die gesamte Region gemeint.
Der „echte“ Schwarzwald besteht aus drei Teilen. Der Südschwarzwald ist geprägt von anmutigen Tälern und dunklen Wäldern, sanften Hügeln mit mächtigen Eindachhöfen und saftigen Wiesen, auf denen braun-weiße Kühe grasen. Im Nord- und im Mittelschwarzwald sieht es anders aus. Enger sind die Täler und noch dichter bewachsen. Fachwerkhäuser gibt es hier und Dörfer, in die die Sonne nur ganz selten vorzudringen scheint. Und im Westen, wo die Hänge des Schwarzwalds in die sonnige Rheinebene übergehen, prägen Felder und Weinberge das Bild.
Ein Freudenstädter, ein Triberger und ein Freiburger haben jeweils etwas anderes im Sinn, wenn sie an den Schwarzwald denken. Der Erste sieht riesige Waldflächen und hält Freudenstadt für die Hauptstadt des Schwarzwalds. Der Zweite denkt an tiefe Schluchten und empfindet die Triberger Wasserfälle als sein Zentrum (womit er geografisch gesehen recht hat). Dem Dritten fallen Freiburgs enge Gassen und das milde Klima ein, und er meint nicht nur im Zentrum des Schwarzwalds zu leben, sondern in der heimlichen Hauptstadt Deutschlands. Kein Schwarzwälder denkt an das große Ganze, sondern immer an das eigene Kleine, das mit dem großen Rest wenig zu tun hat.
Nicht dass die Freudenstädter, Triberger und Freiburger ignorante Provinzler wären, die nicht über ihren Tellerrand hinausschauen. Die jeweiligen Gebiete hatten einfach nie viel miteinander zu schaffen. Der Schwarzwald war jahrhundertelang so dicht und undurchdringlich, dass es kaum Verbindungen zwischen seinen einzelnen Teilen gab. Als er im frühen Mittelalter besiedelt wurde, machten die vielen Täler und Berge den Bau großer Verbindungsstraßen beinahe unmöglich. Das Reisen war eine beschwerliche Sache. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Wer im Nordschwarzwald wohnt, fährt nicht mal eben so in den Süden und umgekehrt. Wieso auch? Man hat den Schwarzwald doch vor der eigenen Haustür, und der genügt. Die Fahrzeiten stehen zudem in keinem Verhältnis zur Entfernung. Will man mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Bonndorf im Süd- nach Bad Wildbad im Nordschwarzwald fahren, muss man erst den Bus nach Neustadt nehmen, da in den Zug nach Freiburg umsteigen, dort in den nach Karlsruhe und dann weiter nach Pforzheim, wo schließlich eine S-Bahn nach Bad Wildbad fährt. Fahrzeit mehr als vier Stunden. Dabei sind die beiden Städte in der Luftlinie keine hundert Kilometer voneinander entfernt.