Generation PEN – Paketentgegennahme

Acht freie Autoren, die sich ein Büro im Prenzlauer Berg teilen, haben den schlechtestbezahlten Job der Welt.

Denn wir nehmen die Päckchen und Pakete entgegen, die im Lauf des Tages in unser Haus geliefert werden. Das sind verdammt viele, besonders in der Vorweihnachtszeit. Weil unser Büro im Erdgeschoss und im Vorderhaus liegt und immer mindestens einer da ist, landen alle Sendungen bei uns. Wir sind die unverzichtbaren Mitarbeiter von DHL und UPS, Hermes und GLS – und verdienen keinen Cent. Wir sind von morgens bis abends im Einsatz, an fünf, sechs, manchmal sieben Tagen pro Woche, und kriegen keinen Lohn, kein Urlaubs- und kein Krankengeld, keine Sozialleistungen, kein dreizehntes Monatsgehalt, nicht mal Weihnachtsgrüße.
Wir sind die Generation PE, Paket-Entgegennahme. Zu hunderttausenden sitzen wir in Büros, Friseurläden oder Kiosken und verwalten den Warenverkehr der Nation. Wie in einem Roman von Kafka sind wir täglich in Arbeitsprozesse eingespannt, ohne uns jemals dafür beworben oder etwas unterschrieben zu haben. Wir wissen nicht mal, ob DHL und UPS überhaupt unsere Arbeitgeber sind. Vielleicht arbeiten wir ja auch für die Fahrer, die meist selbständig oder scheinselbstständig sind. Oder für unsere Nachbarn, die schubkarrenweise Sachen im Internet bestellen und nie, nie, nie zuhause sind, wenn das Zeug gebracht wird?
Und wir nehmen alles entgegen. Socken, Bücher, Schuhe, Lebendtierfutter, Hochzeitstorten, Kochtopfsets, Autoreifen, Fahrräder, Gartenmöbel und dem Gewicht nach auch jede Menge Backsteine. Manchmal stapeln sich in unserem Flur so viele Pakete, dass man gar nicht mehr durchkommt und sich wundert, dass es überhaupt noch Einzelhändler gibt. Die Fahrer kommen jeden Tag. DHL um zehn, UPS und elf, Hermes gegen halb zwölf und GLS um eins. Nachmittags trudeln dann die restlichen Anbieter ein. Träten wir Mini-Mini-Jobber kollektiv in den Streik, würde das System sofort zusammen- und landesweites Chaos ausbrechen, denn kein Päckchen würde mehr ausgeliefert. Weihnachten fiele ins Wasser, weil niemand ein Geschenk hätte. Vor den Postfilialen, wo die Fahrer die Kartons in ihrer Not abgeben würden, gäbe es kilometerlange Schlangen, die Polizei müsste eingreifen, damit es nicht zu Gewalt und Massenpanik kommt, die wenigen verbliebenen Geschäfte wären nach wenigen Tagen restlos ausverkauft.
Am frühen Abend klingeln die ersten Nachbarn. Abgekämpft stehen sie in der Tür, halten uns einen bunten Benachrichtigungsschein vor die Nase und fragen, ob wir ein Paket für sie haben. Natürlich haben wir, sonst hätte ja kein Zettel in ihrem Briefkasten gelegen. Den Schein kontrollieren wir übrigens, seit im Büro von Freunden ein Päckchen wegkam und der Empfänger sie angezeigt hat.
Wenn die Angaben stimmen, dürfen sie reinkommen und sich ihr gutes Stück aus dem Haufen fischen. Manchen ist anzumerken, dass sie lieber bedient würden. Früher habe ich mich tatsächlich durch die Paketberge gewühlt, manchmal auf allen vieren, während die Empfänger in der Tür standen und ihre restliche Post lasen oder eine SMS schrieben. Aber ich habe mir letzten Monat beim Versuch, einen Zalando-Karton von einem Amazon-Stapel herunter zu wuchten, einen Hexenschuss zugezogen. Seitdem halte ich mich zurück.
Mein Job hält mich schon genug auf Trab. Ich habe den hintersten Platz im Büro, von meinem Tisch bis zur Tür sind es etwa zwanzig Meter. Im Schnitt klingelt es acht Mal pro Tag, wenn ich nur jedes zweite Mal gehe, lege ich am Tag 160 Meter zurück. Das sind in einer Woche 800, im Monat 3.200 und in einem Jahr 38.400 Meter! Und das alles für Menschen, die einen behandeln wie…wie… wie einen Paketzusteller! In all den Jahren haben wir ein einziges Mal eine Flasche Wein bekommen, als Dankeschön. Das war letzten Dezember, ein Nachbar wollte ein Paket abholen und drückte sie uns in die Hand. Er war betrunken und die Flasche nicht mehr ganz voll, wahrscheinlich hatte er sie gerade auf irgendeiner Weihnachtsfeier abgestaubt. Manchmal macht einer eine Szene, weil er zu nachtschlafender Zeit ein Paket abholen wollte und niemanden mehr angetroffen hat. Der steht dann am nächsten Morgen im Flur und schimpft und droht, er würde dafür sorgen, dass wir in hohem Bogen rausfliegen. Wobei er leider immer nur das Haus meint und nie den Mini-Mini-Job.

Zuerst, in leicht abgeänderter Form, am 24.12.2014 in der Süddeutschen Zeitung erschienen